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Titel
Diese Nächte
Der Text
Diese Nächte im tiefen Winter, wo bei geöffnetem Fenster mit der filigranen Gardine davor die frisch kalte Luft übers Laken strich, ohne mich unter der lauwarmen Decke zu erreichen. Und doch kroch sie irgendwie darunter in meinen Kopf, denn mit ihm lernte ich Fühlen. In ihm kamen alle Empfindungen zusammen wie zu einem sich langsam zusammensetzenden Orchester des Verstehens und Begreifens. Jedes einzelne Instrument besaß seine eigene Schönheit, sein individuelles Sein, und war ohne die anderen nicht das, was man vollkommen nennen konnte. Im Winter erklang es noch unvollendeter, ließ die fast schmerzhaft hellen Töne in den Vordergrund und mich nicht schlafen. Vielleicht war es auch die Aussicht auf das Fest, das bevor stand, die Unruhe. Im vollem Mond sah ich nicht wie rund er doch war, eher seine Narben der Verletzung, ein verprügeltes Wesen, von dem man vieles noch nicht wusste, und geheimnisvoll war er, der Mond. Doch in all seiner Verletzung kehrte er mir wieder seine Narben zu, als wollte er sagen schau her, was sie mir getan haben über die Zeit, doch ich bleibe bei dir.

Diese Nächte im Vorfrühling, wo sich bei geöffnetem Fenster die Gardine leicht bewegte. Von einem fernen Nachtwind in Unruhe versetzt, die erst jetzt zur Ruhe kam direkt über meinem Bett, im Zimmer, aus dem ich sie nicht heraus ließ, weil ich rätselte woraus die jetzt andere Luft bestehen musste. Bis zum Einschlafen ließ ich mir Zeit, die mir ausging, wenn ich die Augen schloss. Die Lösung war aus aufgetauten Lehmböden ringsum, und erwartungvollen kurzen Gräsern, denen man den Hals durchschnitt im Spätsommer, als sie noch an einen zweiten Frühling glaubten. Vergilbt, erfroren und doch so voller Leben wie ich selbst. Das hatten wir gemeinsam, die Gräser und ich. Wachsen sollten wir, und einmal vielleicht blühen, wenn nichts dazwischen kam wie bei meinem Freund, dem die Fahrradkette riss im schlechten Moment, als er vom Berg kam.
Aufmerksam lauschte ich in die Richtung, aus der jetzt vielleicht andere Laute kamen, die von Überlebenden auf der Suche nach Nahrung. Ich selbst bekam Brot von gestern und vorgestern, das in eine breite Tasse gebrockt mit heißem Kaffee übergossen wurde, und mit einem Teelöffel Zucker und guter Butter zu meinem Liebling am Morgen wurde.

Diese kürzeren Nächte im Frühling, als die zahllosen wilden Primeln, Schlüsselblumen genannt wurden, und tatsächlich der Schlüssel waren für das, was hinter der verklemmten Tür des Winters aufs Öffnen wartete. Ihr Duft blieb schwer und süß, und wenn er nicht leicht wurde durch etwas, das ihn antrieb, wie sollte er es bis zu mir schaffen hinter der Gardine? Ich nahm ihn wahr, ich roch ihn nicht, weil er unaufdringlich war, und mich noch einen Moment weiter schlafen ließ. Heute weiß ich, dass es intensiver gewesen wäre draußen zu schlafen, wo alles ruhte, doch konnte man sich da nicht verlieren, zum Opfer werden von Feinden, die man noch nicht kannte? Niemand kam und klärte mich auf mit den Worten "Das ist Frühling". Er kam wie alles andere danach, weil es seine Zeit war.

Diese Nächte in August Sommern, den Tagen folgend, und sie ins Dunkel hüllten, nur von den grellen Blitzen der häufigen Gewitter erweckt und dem Gebrüll des Donners, der sich in den Bergen ringsum verlief, und scheinbar wieder herunterrollte vor die Tür des Hauses, die Fensterscheiben der Veranda klirren ließ wie zerspringendes Glas. Wer konnte da an Schlaf denken und an dem Gefallen finden. Nein, Sommernächte konnten auch anders. Mit Kauzgeschrei und Fuchsgebell, und der Korn Brise eines der nahen Felder, die bei mir gespitzen Ohren beliebten zu tuscheln. Irgendwann schlief man ja doch ein, und wunderte sich am Morgen über die andere Welt, die übergossen war wie der sprichwörtliche Pudel.

Diese Nächte im Herbst. Bunt suchte sich das Laub einen Weg gegen die Nacht. Schaut her, wir leben noch und kleiden uns ein letztes Mal zum Fest der Farben bis Stürme aufziehen, die sie uns vom Leib reißen, und selten eines vergessen. Dann war das Fenster zu, doch der Traum ging ja weiter als wiederkehrendes Glück dabei gewesen zu sein.
Typ
Kurzgeschichte
Autor
Burkhard Jysch
Veröffentlichung erlaubt
Nein