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Titel
Dorfausgang
Der Text
Soeben hatte man sich durch das Dorf geschlängelt, in dem der Straßenverlauf offensichtlich auf jedes der alten Häuser Rücksicht nahm, und um sie herum führte, als das Hinweisschild in Sicht kam, dass man es schon wieder verließ. Es ging einen Hügel hinab und schwang sich wieder auf, als hätte der Weg die Kraft den voraus liegenden Höhenrücken eines Weserberglandzuges zu erreichen. Mehrfach war ich diesen ehemaligen Schulweg seither gefahren, und mehrfach ging mein Blick zum Feldrand, an dem nicht, wie sonst üblich, Getreide wogte oder Rübengrün sich seinen Tag machte. Stattdessen ragten neugierig windbewegte Köpfe zahlreicher Fingerhutstauden in den Taghimmel, neben Stockrosen aller Farben. Einen Weg suchte ich beim Besuch stets vergebens, und dieser war auch völlig unnötig, denn man brauchte sich nur an dem gebückten Menschlein zu orientieren, das ihn offensichtlich vergessen hatte einzurichten.

Es war die schlicht umwerfende Vielzahl unterschiedlichster Kräuter und Pflanzen, sich selbst liebender Blumen, die ihrer Schöpferin durch ihre Anwesenheit etwas Dank zurück geben wollten. Die steinige Lehmerde hielt die Feuchtigkeit im Boden fest, und gab sie selbst in trockensten Sommern nicht her. Bei einem meiner ersten spontanen Besuche sprach ich die alte Dame einfach an, und eröffnete das Gespräch mit der Frage, wie viel Geld wohl in alles gesteckt werden müsste, dass es so wird wie es war. Zwischen ihren Zahnlücken presste sie das Wort "nichts" heraus. Alles Spenden aus dem Dorf und von Vorbeieilenden, die mir oft etwas in die Hand drücken. Eine Tüte mit Samen, ein scheinbar verlorenes Grün mit kaum der Andeutung einer Wurzel. Sie hatte offensichtlich Rückenschmerzen beim Aufrichten, einen Flechtkorb mit diversen Stärkungsmitteln dabei, inklusive einer angebrochenen Flasche Rotwein. Ihre faltigen Hände glichen einer Grabgabel, nur mit Fingern, unter deren Nägeln noch Platz wäre für weitere Anpflanzungen.

Es gab auch einen schiefen zusammen geschusterten Bretterverschlag, in den sie sich bei einem Regenguss zurück ziehen würde, wie ich annahm. Von der Farb- und Artenvielfalt erschlagen kam ich bald zu dem Schluss, dass in ihrem alt gewordenen Kopf jenes Wissen um die Zusammengehörigkeit verschiedener Arten schlief, das im allgemeinen der ganzen Menschheit gut tun würde, um auf diesem geschenkten Planeten in Eintracht zu überleben. Vor mir stand also die Antwort auf die Frage, wie man zum Frieden kommt, wie viel Wasser jeder braucht, und wie viel Wertschätzung. Von Nachbarn im Dorf hörte ich mal, dass sie manchmal etwas murmelt, als spräche sie mit ihnen, denn sie war längst Witwe, und kaum jemand hörte ihr zu.

Es erfreute sie sehr, dass ich mich für ihr Projekt interessierte, und als hätte sie auch noch Gedanken lesen können, drückte sie mir ein paar getrocknete Schoten einer Bauernrose in die Hand, deren Farbe einem Halstuch glich, das ich einmal am Hals einer Schulliebe flattern sah. "Sie braucht nicht viel, eher wenig und ab und an ein liebes Wort!" Ich zog mit diesen Empfehlungen davon, und hätte so gern gewusst, wohin ich sie aussäte. Denn in den Folgejahren kam nichts an der Stelle. Es war wie mit der Halstuch Liebe. Wie vom Winde verweht.
Typ
Kurzgeschichte
Autor
Burkhard Jysch
Veröffentlichung erlaubt
Nein