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Titel
Die Ziege
Der Text
Es gab Zeiten, in denen ich nicht im Haus bleiben konnte, und meine Eltern mich dankbar an eine der drei Tanten zeitbegrenzt verliehen, die sich über den Blondschopf freuten, der ihren Alltag bereicherte. Ihr Haus lag inmitten eines sehr überschaubaren Dörfchens, das einen Gutshof hatte, eine Gaststätte mit einem Pfau und eine Schmiede. Eine Kirche und ein kurz hinter dem Dorf liegender Friedhof komplettierten die Welt, die meist vom Rest getrennt vor sich hin schlummerte.

Es gab kaum etwas aufregenderes als im Haus der Tantchen herum zu stöbern. Ich schob den schweren Deckel vom großen Topf, in dem Sauerkraut eingelegt war, schnüffelte in der Speisekammer am luftgetrockneten Schinken, und bestaunte die unzählbaren Einweckgläser, die wie Soldaten in Reih und Glied auf ihren Einsatz warteten. Die meisten standen leider zu hoch im Regal. Alles, was sie in ihrem Garten ernteten, landete früher oder später in Weckgläsern, wenn ich es nicht schon vorher in den kleinen Mund gestopft hatte.

Nach hinten hinaus, wo es zum Plumpsklo ging, wo das Holz gelagert wurde, und die Miste müffelte, gab es einen großen Dachüberstand, unter dem ein Stall für das Schwein gebaut war, und einer für Ida, die Ziege. Sie war es, die es mir besonders angetan hatte. Ihre Zunge war rau, wenn sie meine Hand leckte, ihre Augen wirkten traurig bis krank, und ihren Käse konnte ich nicht ausstehen. Sie war so groß wie ich und steckte ihren Kopf durch die Lücken ihres Geheges. Kurz vor meinem Besuch war der Kohlenhändler gekommen, und hatte seine Ladung Eierkohlen in die Einfahrt geschüttet. Ich muss beobachtet haben, dass Ida dankbar war für´s Kraut der Möhren, Salatblätter und Kartoffelschalen. Sie meckerte dann nicht mehr.

Was ich mir nicht vorstellen konnte war, dass sie Vegetarierin reinster Natur war, und in freier Wildbahn so gut wie nie mit Eierkohlen in Berührung kam. Jenes Exemplar, das ich ihr reichte, verwechselte sie wohl mit einem angefaulten Rosenkohl, den sie schnell hinunter würgte. Die Kohle kam bis zum Adamsapfel und blieb dort stecken. Ida ging es nicht gut. Sie würgte und rang nach Luft. Alle drei Tanten stürzten herbei und blickten auf meine schwarzen Fingerchen, von denen einer zur Ziege deutete.

Nach allen Bemühungen, und unter Hinzuziehung des Kreistierarztes, gelang es dann doch die Ziege zu retten! Nur wenige Tage später war sie tot. Man sagt, sie starb an akuter Verstopfung. Seither muss ich immer an Ida denken. An ihre traurigen Augen, und wenn ich selbst mal etwas verschluckt habe, oder es auf dem Klo nicht klappen will, muss ich immer an Ziegen denken...
Typ
Geschichte
Autor
Burkhard Jysch