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Titel
Die rote Hanoi
Der Text
Es sollte ein Selbstversuch sein. Vor einigen Tagen kaufte ich Spargel auf einem nahe gelegenen Hof, der auch Erdbeeren anbaut. Ich wollte schon immer mal dabei sein, wenn der Spargel mit einem langen Eisen aus dem Boden geholt wird und fragte die Dame danach, ob ich eine Chance habe, wenn es ans Stechen ginge.

An Arbeitskräften haben wir unsere bewährte Truppe zusammen, doch wenn es an die Erdbeeren geht, da könnten wir noch jemand gebrauchen.
Ich gab ihr meine Telefonnummer und vergaß das Gespräch.

Der Anruf am Sonntagabend !

Wer ist da dran? Kenn ich nicht. Verwählt!
Die Gegenseite bleibt hartnäckig.
Sie gaben uns doch ihre Telefonnummer wegen der Erdbeerernte, oder?
Klar komme ich schon morgen, habe ja sonst nichts vor. Wann soll ich denn da sein?
Er sagte mir eine Zahl, die wohl die Uhrzeit gewesen sein sollte. Eine Unverschämtheit!
Da kann ich ja gleich aufbleiben! Haben sie keine Spätlese? Muss es die frühe Sorte sein?

Es folgte eine Erklärung was eine Erdbeere mag und was nicht. Wann sie sich knipsen lässt und wann eben nicht. Auf den Pflücker konnte keine Rücksicht genommen werden. Es ging um ihre königliche Hoheit in roter Robe mit grünem Gewand herum.

Halb sechs für sechs Euro die Stunde. Ich: Na, das ist doch mal was. Lange keinen Wecker mehr gehört, sage ich und schlucke trocken runter.
Also am besten gleich ins Bett und das Handy auf Wecker programmiert. Meinem Stammwecker hatte ich am ersten Januar mit einer Schaufel die Glocke vom Rumpf getrennt mit nur einem einzigen Schlag, und ihn dann im hinteren Teil des Gartens beigesetzt. Das Handy hatte seine Weckmusik: Ich wählte dafür das Schlimmste der Oberkrainer Dorfmusikanten.

Unrasiert stehe ich um halb sechs (!) vor dem Hofeingang.

Leere, Zu, keine Seele......

Es ist die Zeit, in der die Einbrecher ihr Werkzeug wegräumen und die Spuren verwischen. Um diese Stunde ist kein ordentlicher Mensch auf der Straße. Als Tascheninhalt in Jute führe ich eine braune Banane, einen Apfel, Penatencreme und ein angenagtes Hühnerbein vom Grillen am Sonntag mit. Es hatte Brandblasen, die aussahen wie meine Kniescheiben 4 Stunden später. Doch der Reihe nach.

Es erscheint der Chef hinter dem Gatter, das den Blick versperrt. Mit einem Schraubstock drückt er mir die Hand, die ich doch eigentlich noch brauchen werde. Sie wird taub und erst Stunden später wieder wach. Dafür bin ich es jetzt.

Wo ist denn die Horde? will ich wissen und fürchte, dass außer mir sich alle krank gemeldet haben. Die Frage ergibt sich aus dem Bodennebel, der nur den Anfang unzähliger Reihen von Erdbeeren preisgibt, die irgendwo im Nachbarland verschwinden. Ich meine nicht Bremen, ich meine Holland. Auf dem Weg zur Horde erfahre ich vom Frost der letzten Woche, der drohte die ganze Ernte zu vernichten, dass es sich um die Sorte Hanoi handelt, was auf schwäbisch eine Antwort auf die Frage ist: Haben sie ausgeschlafen?

Er spricht von ca 8 Leuten, die jetzt aus dem Nebel nach und nach auftauchen. Unser Nachbarvolk aus Polen hat sich verteilt, schiebt kleine Gelände angepasste Wägelchen mit Kisten und Plastikschalen vor sich her, grüßt auf halbehalbe deutsch/polnisch und schleppt sich tief kriechend vorwärts. Das letzte Mal, dass ich knien musste, war bei meiner Trauung, nach der mir Viele halfen wieder hoch zu kommen. Hier sollte ich allein dabei sein.

Ich bekam eine kurze Einweisung, was in die Schalen gehört und was nicht, dass Wert auf das Rote und nicht auf das Grüne gelegt wird, wobei aber immer etwas Grün beim Roten bleiben soll, weil es sich sonst schnell einsam fühlt und weg gammelt. Ich solle das Grüne durchforsten.

Schon beugt sich der Oberförster das erste Mal herunter, füllt Ladung um Ladung in 10 Schälchen und versucht sie dann zum Servicewagen zu bringen in der Annahme, dass er sich aufrichten kann. Es klappt nur bis zur Hälfte. Die andere verharrt in der Bückeburger Lauerstellung wie ein Taschenmesser, das klemmt. Es stolpert zwischen den Reihen tänzelnd. Eine gebückte Gestalt im Morgengrauen an den Anfang der Reihe hinkend und legt dort die erste Beute ablegend. Dieser Vorgang soll sich noch fünfmal wiederholen, während sich der Nebel lichtet und die Sonne die Fontanelle bestreicht, wobei sie leicht zu finden ist. Hat das Haar die Kopfhaut doch ebenso schnell verlassen wie die Deutschen der Mut, sich im Nebel des Morgens, ja ja, ich deutete es schon an.

Ich werde von einem polnischen Mitgebeugten auf polnisch gefragt und verstehe das Wort Hexenschuss daraus, obwohl ich nicht weiß, ob es das Wort auf polnisch gibt. Ich antworte fließend polnisch und werde ebenso nicht verstanden.

Hinter mir liegen sie noch im Feld, die 8. Ich selbst habe längst meinen bekannten Hut aufgesetzt und trete vor die Chefin des Hofes. Ich bedeute ihr, dass ich einer war, der aus dem Feld in die Heimat will, und morgen um dieselbe Zeit an anderer Stelle, wo die Früchte größer sind, wieder da sein werde. Die überflüssige Frage nach dem Mitbringen einer Sackkarre übergeht sie still.

Die Bemerkung, dass ich zu den Pflückern gehörte, war im Grunde ebenso überflüssig. Im Rückspiegel des Wagens sah mich ein Gesicht an, das deutliche Spuren von Erdbeeren zeigte. Von Ohr zu Ohr zog sich ein angetrockneter Brei aus Hanoi....
Typ
Geschichte
Autor
Burkhard Jysch