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Titel
Die Nachzügler
Der Text
Urlaubsfotos mit dem Handy zeugen von Ereignissen, die sich vor kurzem abgespielt haben. Sie sind frisch, manchmal lustig, und manchmal zeugen sie von der Wahrheit. In diesem Fall von einer Familienwanderung, die wir zu sechst antreten, um den zum Greifen nahen Deich zu erreichen, einer fünf Kilometer langen Fatamorgana. Ein Bollwerk gegen die Fluten mit zahlreichen Schafen, inklusive ihrer Osterlämmer bestückt, die manchmal herzzerreißend nach der verlorenen Mutter rufen. Bevor wir aber auf dem Stichweg dorthin gelangen, ist eine 400m Strecke direkt auf der zweispurigen Landstraße zu meistern, die stark befahren wird, und uns bei jeder Druckwelle ins Gras treibt.

Wir sind in Ostfriesland, das eigentlich für Fußgänger Großfriesland heißen müsste. Jetzt fallen Radfahrer auf, die sich ihre Schuhe schon durchgelaufen haben und aufs Rad schwören. Verleih gleich am Ortseingang mit Rückgabe Termin rund um die Uhr. Wer zu sechst unterwegs ist, hat sechs verschiedene Vorstellungen, was man die nächsten Tage so alles befahren könnte, und geht dann doch zu Fuß. Jeder trägt eine Fitnessuhr am Handgelenk. Und um es vorweg zu sagen: meine fragte mich am Ende, ob ich sie zwischenzeitlich jemand anders ausgeliehen haben könnte...?

Daheim brachte ich es auf durchschnittlich 3000-5000 Schritte, im Urlaub dann nicht unter 12000 mit der Auszeichnung, dass ich ein längeres Leben haben würde. Ich war mir da wegen der 400 m Landstraße nicht so sicher. Schließlich aber dann doch im ersten kalten Wind und sehr bedecktem Himmel der ersehnte Nordseestrand, der sich bei Flut tatsächlich mit Wasser präsentierte, das die graue Farbe des Himmels trug. Eine ganz andere die der Felder. Jeder Bauer rechnete sich aus, was wohl die Rübe abwirft im Gegensatz zum Raps, und baut ihn großflächig an. Bis zum Horizont, der so weit weg ist wie der Deich. Bienenkästen inmitten sorgen fast für Homeoffice Atmosphäre für die fleißigen Summser.

Wer wandert verbraucht Energie. Egal wohin man auch kommt, direkt am Wasser ist kein fast Food möglich. Man soll die kleinen Küchen in den entlegenen Dörfern nicht vergessen, die sogar Fischbrötchen anbieten. Beim Wettergott der nächsten Tage werde ich mich nachträglich bedanken. Sonne satt über Ostern und warm hinterm Deich, der den Wind abhält, und uns alle ins Schwitzen bringt. An Bord der Fähre nach Norderney weht er dann alles weg, bis auf die UV Strahlen. Wer sich nicht eingecremt hat, wundert sich am Abend über seine Glühbirne.

Auf der zweiten Bootstour geht es zu den Seehund Bänken. Hier liegen sie in der prallen Sonne und wärmen die 3-4kg Fisch auf, die sie täglich brauchen. Die Entscheidung nicht zur Aufzuchtstation zu fahren erweist sich als richtig. Hier soll es nur noch einen halbstarken Heuler vom Vorjahr geben. Die Jungen kämen erst im Juni wieder. Das wäre echt zum Heulen gewesen.

Bei unserer Wanderung gibt es die Zugvögel ganz vorn und uns, die doch etwas älteren, die in einem gebührenden Abstand folgen. Unsere Unterkunft, ein großes Bauerngehöft, ist schon lange vorher zu sehen, ist aber genauso weit entfernt wie der Deich zu Beginn. Meine Füße, wo sind denn meine Füße (?), sie schleppen den Torso bis zur Teerstraße, wo auf der anderen Seite dann das Foto: "Die Nachzügler" geschossen wird.

Es zeigt zwei gebeugte Gestalten mit Fitness Uhr am Arm, der Flut, der Sonne, dem Raps entronnen, die ihre Wintersachen über dem Arm tragen, und lieber im Badeanzug unterwegs gewesen wären. Sagt man nicht "Am Wasser ist immer Wind?"
Ostern 2022 nicht!
Typ
Geschichte
Autor
Burkhard Jysch
Veröffentlichung erlaubt
Nein