Text 235/632

Titel
Die Ruhe vor dem Sturm
Der Text
Vielleicht war es das Entfernen aus den unruhigen Räumen im Haus, das Entfernen von den Verboten, nicht hier hin zu schauen, in bestimmte Schränke und Schubladen, in denen etwas Geheimnisvolles versteckt war, das darauf wartete von mir ausgewickelt zu werden... Wenn ich das Haus in solchen Momenten für einen ausgedehnten Spaziergang nutzte, käme ich gar nicht in Versuchung nachzuschauen, um rein zufällig etwas zu entdecken, was ich mir so wünschte.

Im Wald gegenüber der Straße lag früher Schnee, der in der Nacht es fertig brachte alles zu verändern, ein frisch angemaltes Zimmer, das mir in Rostbraun so geläufig war, das jetzt aber in Unschuldsweiß wie ein eingewickeltes Geschenk wirkte, das ich nicht berühren durfte. Ich wählte die Straße, die beständig die Höhe erklomm und stellte beruhigt fest, dass ich der einzige war, der sie betreten hatte. Alleinsein hatte was. Niemand fragte, die Natur beantwortete so viel. Außer ein paar tropfenden tiefen Zweigen, ein Alarmschrei des Eichelhähers, der mich längst gesehen hatte, außer diesen Geräuschen hörte ich meinen eigenen Atem, und sah ihm ein Stück seines kurzen Weges nach, bevor er sich in der kalten Luft auflöste.

Es war etwa hier, als ich vor wenigen Jahren mit einem Reh zusammen traf. Wir beide waren so verdutzt, dass wir augenblicklich stehen blieben, und uns groß anschauten. Es musste andere Erfahrungen mit den Zweibeinern gemacht haben als solche Zusammenkünfte, denn plötzlich sprang es in die Tannenschonung in Deckung. Ich erreichte das Ende der Straße oben auf dem Waldhügel und schaute ins Tal, das bereits jetzt schon in diffusen grauen Dunst über ging, als hätte es keine Lust mehr auf Tag. Wie nah doch das Läuten der Kirchenglocke herüber kam, wie fern sie tatsächlich war.

Es mochte etwas mehr als eine Stunde vergangen sein, bevor ich die Schuhe vor der Haustür abklopfte und eine warme Küche betrat, die vertraulich fremd nach Zimt duftete. Diesem Zeug, das das ganze Jahr irgendwo auf diesen Moment wartete.

In der Ruhe vor dem Sturm.
Typ
Kurzgeschichte
Autor
Burkhard Jysch
Veröffentlichung erlaubt
Nein