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Titel
Abschied am Morgen
Der Text
Nach zeitlosen Tagen, die eigentlich sämtlich verschlafen wurden, war der frühe Morgen gekommen, an dem wir sonst, meist mit einer gehörigen Portion zu viel Leben zurück in die Palmstroh bedeckte Hütte wankten, wurden wir vom Abschied überrascht. Es kam so plötzlich wie ein Schauer. Nach nur wenigen Stunden Schlaf klingelte erstmals wieder der Reisewecker. Aufstehen, Wasser ins Gesicht und Instant Kaffee, die wenigen Habseligkeiten zusammen gerafft. Der Schlüssel für das kleine Vorhängeschloss unter die Matte gelegt, und die paar Meter durch den immer noch warmen Sand hin zum Strand. Das erste Boot an der ersten Anlegestelle dieses schneeweißen Strandes sollte unseres sein.

Die fleißigen Dorfbewohner waren dabei den Strand zu säubern, den Unrat später in Tonnen zu verbrennen, so dass nichts mehr übrig blieb von der vergangenen Nacht. Das stille Wasser schwappte an die schmalen Rümpfe der Auslegerboote, die von Tauen gehalten wurden. In mir hätte ich gern das Herz an einer der schrägen Palmen verankert, hätte das Boot vorbei gewinkt, das mich abzuholen bereit war, und wäre in dieser Schwerelosigkeit vergangener Tage einfach geblieben. Mein Körper, der sich ins grünblaue Wasser sinken ließ, weil es sich anfühlte, als gehöre er hier her, seit ich an Land der Insel gewatet war, sträubte sich.

Der Abschied selbst war nicht das Schmerzhafteste. Es waren die leisen Stimmen der sich versammelnden Einheimischen, ihr "take care", waren ihre gegerbten braunen Gesichter, aus denen nichts als die Fröhlichkeit sprach, als wüssten sie, dass sie im Paradies lebten. Sie gaben uns dieses Lächeln mit an Bord, und brauchten es nicht in unsere Sprache zu übersetzen. Mit einigen hatten wir uns angefreundet, sie wieder erkannt beim Abschied, als sich das Boot näherte. Wir mussten die letzten Schritte durchs Wasser waten wie bei der Ankunft. Doch jetzt spürte ich den Sog, der stärker zur Insel war als aufs Meer hinaus.

Wir ließen zurück die kurzen Bekanntschaften der Weltenbummler, die Familie, bei der wir Quartier fanden, den Nachhall der Gespräche, das laute Gekreische bei den Anekdoten am langen Tisch, das Mondlicht beim Weg zurück in die Hütte, die Grillstellen der kleinen Familienbetriebe direkt am Strand, bei denen wir aßen, und die Felsformation, zwischen deren Bögen des Abends die Sonne sich entschloss zu versinken.

Als unsichtbar Mitreisender war es später der weiße Sand, der aus dem Umschlag der Jeans rieselte, als ich sie in die Waschmaschine daheim stopfte. Wie muss es sich wohl für ihn angefühlt haben, als ich ihn mit einem Eimer Wasser im Waschkeller in den Abfluss beförderte. Er verschwand einfach.
Typ
Kurzgeschichte
Autor
Burkhard Jysch
Veröffentlichung erlaubt
Nein