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Titel
Aller Anfang ist nicht leicht
Der Text
Meine ersten drei Jahre nach der Geburt des Sohnes wurden nachhaltig bestimmt durch Schlaflosigkeit. Ich legte mich zu Mittag regelmäßig etwas aufs Ohr, ging abends mit Dagmar Berghoff ins Bett, schlief bis zum Wecker durch, und konnte mich an keinen der Träume erinnern, weil sie tief und fest waren. Dieses änderte sich schon bald, nachdem ich den kleinen Schaukeltragekorb mit Inhalt in den Flur stellte, als wäre es ein Wochenendeinkauf.

Man sagt ja, dass der erste Eindruck entscheidend ist. Es muss ein sehr schlechter Eindruck für den Sohn gewesen sein. Von der Decke herab ragten bizarr Stromkabel verdreht in den leeren Raum, ein Großteil der hässlichen Tapete wurde von jedem etwas gelöst, der an ihr vorbei musste. Die Jalousie war ganztags halb geschlossen, da ich fürchtete, jemand könnte durch sie in den Raum schauen; eine Baustelle.

Im Einkaufskorb fing es an zu rumoren. Dieser hohe schrille Ton der Unzufriedenheit, die eine sofortige Änderung einfordert. Ja, Gott, sollte ich ein anderes Haus kaufen? Ich stellte die Schallquelle auf den Küchentisch zwischen die Umzugskartons und Farbeimer. Auch das gefiel ihm nicht. Kinder kommen schon mit gewissen Ansprüchen auf die Welt. Die Umgebung muss einfach ansprechend sein. Bis sie das wurde, vergingen jene ersten Jahre, von denen zu berichten ist.

Durch die gepanzerte Glasscheibe im Krankenhaus war der eigene Sohn schon dadurch zu erkennen, dass eine Art Summen aus seinem blütenweißen Bettchen nach außen drang. Kam man dann für kurze Zeit herein, gab es dieses Geräusch, das bald zur ständigen Begleitung durchs Leben werden sollte. Eine Art Entrüstung und Wut, die Einforderung einer noch offenen Rechnung, bis er blaurot anlief. "Das gibt sich", waren die letzten Worte der freundlichen Schwester, die uns bis vor die Tür des Krankenhauses begleitete. In der Klinik wurde es wieder ruhig.

Wir wurden in den kommenden Wochen von einer Art Hebamme und der Schwiegermutter unterstützt. Mein gesamter Jahresurlaub war verbraucht, da ich zwei Wochen vor dem errechneten Termin Urlaub hatte, und zwei danach. Er kam am ersten Arbeitstag...

Es gab durchaus Schreipausen. Jene unglaublich stillen Phasen, wo ich glaubte, dass er tot sein muss, oder ich. Ich lauschte dann meinem eigenen Atem, den ich zur Kontrolle zeitweise anhielt, um ihn dann zufrieden wieder einsetzen zu lassen. Schlaf brauchte Sohn nur zu sehr unterschiedlichen Zeiten, und das nur wenig. Da ich im Schichtdienst eingesetzt war, kannte ich das Wachsein, hatte dann aber am Morgen danach Zeit, mich auszuschlafen. Das waren noch Zeiten! Natürlich befragten wir bei den Nachsorgeuntersuchungen den Kinderarzt, warum nur, warum? Und woran es liegen könnte. "Seinen Sie unbesorgt, es ist ein sehr interessiertes Kind!" Für solch eine Antwort reizte es mich, ihn zu hauen. Hat man dafür studiert?

Wir kauften Standardschnuller in der gewöhnlichen Form, die einer Brustwarze ähnelt, und sich von 99% aller Kinder auf dieser Welt als Beruhigungsmittel einsetzen lässt. Unser Sohn entdeckte den Schwindel bereits nach der ersten Anprobe und spuckte ihn im hohen Bogen ins Zimmer. Ich suchte verschiedene Drogerien auf bis hin zu Toys r´ Us. Schnuller genoppt, linksmundwendbar, rechtsbündig, kurze und lange, die bis zur Luftröhre reichten. Sogar farblich bevorzugte vielleicht? Rosarot bis Bübchenblau, oder durchsichtige wie bei einem Röntgenbild?

Also nicht! Ich nahm ihn hoch, und zeigte ihm aus dem Fenster die Welt. Es regnete. Unser Wagen war zugeparkt. Er war sehr unzufrieden damit. Die Sonne war ihm zu hell, die Nacht zu lang, und überhaupt mochte er irgendetwas nicht, dass sich außerhalb des Bauches seiner Mutter abspielte. Das war das meiste. Vielleicht hatte er ja vor der Geburt auch schon geschrien, und wir hatten es nicht gehört, wegen der dicken Bauchdecke?
Meine berufliche Einbindung im Schichtdienst ermöglichte es mir, ihn nach der Nachtschicht in meine Arme schließen zu können, aus denen er sich am liebsten niemals befreien wollte. Wer einmal todmüde mit einem Kind auf dem Arm den Morgen hin und herlaufend verbracht hat, sucht nach Auswegen oder Parkbänken. Schob ich in der Morgenfrische mit dem Kinderwagen zum nahen Stadtweiher, wurde ich von den Hunden angeknurrt wegen meiner roten Augen. Blieb ich mit ihm allein im Zimmer, das ich vorsorglich verschloss, legte mich auf den Teppich, um endlich doch etwas Schlaf zu erstreiten, spürte ich sehr bald die klitzekleinen Fingerchen, die meine Augenlider nach oben schoben. Eine Art Erste Hilfe.

Doch, es gab sie, die Momente, die ich innerlich in Gold rahmte. Zwischen dem Wohnzimmer und dem Flur gab es eine Schwelle. Wenn ich über sie fuhr mit dem Kinderwagen, machte das Kind einen leichten Hüpfer. Das gefiel ihm. Dann stellte er sich nach einer Stunde schlafend, während ich mir im Nachtprogramm aufgenommene Fahrten aus dem Führerstand eines Zuges interessiert ansah. Ich lernte Deutschland kennen neben der Strecke. Einsame Bahnhöfe um 3 Uhr dreißig in der Nacht. Alternativ "Space Night" mit Untertitel, wo sich das Raumschiff gerade befand. Von oben meinte ich über Norddeutschland das einzige Licht aus einem Fenster erkennen zu können. Unser Fenster.

Bei der 243sten Nachuntersuchung stellte der Arzt eine zufriedenstellende Gewichtszunahme bei ihm fest. Auch schrie das Kind keineswegs, sobald wir die Praxisräume betraten, ließ sich vom Herrn in Weiß mühelos auf den Arm nehmen, während er uns eher misstrauisch ansah, wenn er sich die Geschichten anhörte über die ständige Lebendigkeit und Schreierei. "Sie sollten mal Urlaub machen, gab er uns mit auf den Weg. Am besten Beide, Sie sehen blass aus!" Einmal werde ich ihn hauen! (geflüstert).

Wir bekamen Tipps aus der nahen und weitläufigen Verwandtschaft, von Freunden, zu denen wir den Kontakt abbrechen mussten, wenn wir uns auch mühten, ihn aufrecht zu erhalten. Am Ende waren es die Eltern, die noch zu uns standen. Jene in England, wo wir ihn taufen ließen, und jene im Weserbergland. Bei der Taufe in einer der uralten Kirchen mit dem verschnarchten Friedhof ringsum, schoben wir ihn in die Kathedrale, wo schon der in grobes Leinen gehüllte Pfarrer neben einem Wasserbassin auf seinen Auftritt wartete. Er hatte sich seine Rede zurecht gelegt, von der es keine Überlieferung mehr gibt, da sie, selbst noch gut funktionierende Ohren, nicht verstanden. Von der Kuppel bis in die letzten Reihen gellte das anglogermanische Geschrei, das die Grundfesten des Gemäuers erschütterte. Zum Höhepunkt meinte ich eine energische Hand gesehen zu haben, die zuerst das Taufwasser aufnahm, und es dann aufs tiefrote Haupt des Sohnes im Namen des Vaters und seines Sohnes warf.

"The devil will go now out of him, belief!" raunte mir eine der älteren Damen zu. Ich begann zu glauben.

Mit der Zeit wurde unter erschwerten Bedingungen das Haus, Zimmer für Zimmer fertig gestellt. Einer von uns schob den Kinderwagen über die Schwelle, die so lange vorhanden war, bis ich im Flur begann Parkett zu legen. Wir mussten uns etwas anderes überlegen. Im Auto unternahmen wir Einschlaffahrten, bei denen ich gegen meine eigene Müdigkeit ankämpfte. Diese wurden alle paar Kilometer unterbrochen, weil gestillt wurde. Neugierige Lastwagenfahrer nutzten die Gelegenheit mit einem Blick, längst vergessene Tage wieder zu entdecken. Wir hatten uns angemeldet und fuhren unter Geschrei zu meinen Eltern. Kurz vor Erreichen schlief er segensreich ein. Wir konnten und wollten nicht halten, damit er weiter schlief. Sie standen Beide an der Straße und freuten sich sehr, bis zu dem Moment, wo wir mit Tempo an ihnen vorbei fuhren. Es gibt Augen, die vergisst man nicht.
Typ
Geschichte
Autor
Burkhard Jysch
Veröffentlichung erlaubt
Ja